Tagebuch eines reisenden Yogalehrers – TEIL 9

Liebe Freundin, lieber Freund, in der Umkleidekabine eines Yogastudios war kürzlich die Diskussion im Gange, ob es besser sei, seinem Kopf zu folgen oder seinem Herzen. Ich steckte meine Nase (nicht etwa meine Augen) in die Umkleidekabine und fügte der
Diskussion eine Winzigkeit hinzu. Diese beruhte auf meiner täglichen Erfahrung und lautete in etwa wie folgt: ´Eine Form des Yoga, welche sich auf Technik, Anatomie und bestimmte, durch Vernunft hergeleitete Gesetzmäßigkeiten stützt, wird immer
zusammenbrechen, trifft sie auf eine Yoga-Art, welche nach dem Gefühl, mit Herz, aus der Intuition heraus geschieht. Sie werden einwenden, liebe Damen, dass sich beide Yogaformen unterstützen. Jedoch unterstützt das Herz-Yoga vielmehr das Kopf-Yoga, als
dass das Kopf-Yoga das Herz-Yoga unterstützt. Und so ist es in unserer Gesellschaft nicht anders.` Ich steckte meine Nase tiefer in die Umkleidekabine hinein und fuhr fort: ´Eine Gesellschaft, welche der Vernunft folgt, rationalen Überlegungen, Ideen, wird immer auch die Konsequenzen abwägen, und vor allem die schlechten Konsequenzen, also das, was ´schief gehen kann`.

Tagebuch-Yogalehrer-Umkleidekabine
Marbach am Neckar, in Süddeutschland

Eine Gesellschaft dagegen, oder ein Mensch, welcher seinem Herzen folgt, wird weniger die Konsequenzen betrachten als vielmehr den Augenblick, das Hier und Jetzt, und mit ihm die vielfältigen Möglichkeiten seiner Augenblicksweisen. Denn es gibt viele Möglichkeiten im Augenblick, jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten in einer noch nicht existierenden Zukunft. Das Herz folgt dem Augenblick und ist daher lebendiger als der Kopf, welcher sich mehr auf die Konsequenzen richtet. Wie können wir
nun einen lebendigen Yogaunterricht gestalten? Wie können wir das, was wir von Herzen lernen, in die Gesellschaft übertragen? Doch halt: Würde ich darauf Antworten geben, würde ich wieder zu einem Kopfmenschen werden, und als solcher hätte ich das
dringende Bedürfnis zu analysieren.

Die Analyse bringt uns aber nicht weiter, zumindest verschließt sie uns Möglichkeiten. Darum kann der Weg nur lauten: die eigene Erfahrung machen, mit eigenen Augen erkennen, nicht analysieren, nicht beurteilen: sondern seine Arme frei und ungebunden in die Luft bewegen – wie würde eine Gesellschaft aussehen, welche ihren Brustkorb erweitert, ihre Hüfte von Verengungen aller Art gelöst?`

Tagebuch-Yogalehrer-Schillerdenkmal
Kopf und Herz: Friedrich Schiller, geboren in Marbach

Die Damen schwiegen. Ich sagte: ´Es wäre eine Gesellschaft ohne Ideen, und daher voller Möglichkeiten. Denn die Angst vor der Bewegung verhindert die Möglichkeiten. Und Angst hat der Mensch der heutigen Zeit, und diese spielt sich in seinem Kopf ab, wobei sein Herz der einzige sichere Grund ist, zu dem er zurückkehren kann. An diesem Grunde beginnen, auf diesem Grunde sein Fundament setzen, und wir hätte mehr Möglichkeiten als Konsequenzen. Ob diese Möglichkeiten sich in Zukunft bewähren, hängt von ihrer Stabilität ab. Daher muss ein Yoga-Unterricht nicht nur herzlich sein, sondern auch stark und stabil.

Diese Stabilität erhält das Yoga jedoch nicht von der Vernunft, welche in den meisten Yoga-Arten den Ton angibt; sondern von der Stille selbst. Wo die Stille das Herz trägt, haben die Möglichkeiten eine Zukunft. Die Stille will nichts, sie braucht nichts, sie fordert nichts. In diesem Raume sein Herz fallenzulassen, erhebt den Menschen zu einer neuen Seinsweise, und würde auch eine Gesellschaft in einer neuen Weise sein lassen. Ließen wir nur sein, ohne vernünftig etwas zu wollen: wie hübsch wäre unser YogaUnterricht, wie tauglich unser Umgang miteinander, wie stabil, und mutig, unsere Gesellschaft?` – Es grüßt herzlich, Ben, Yogalehrer und Schriftsteller, aus einer Umkleidekabine in Marbach.

[yellowbox]Ben ist gerade in fünf Ländern als Yogalehrer unterwegs und schreibt dabei regelmäßig für Asanayoga. Teil 1 seiner Reise findest du hier, Teil 2 der Reise kannst du hier lesen, hier sind Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7 und Teil 8. Folgt Ben außerdem auf seinen beiden Websites: als Yogalehrer & als Schriftsteller.[/yellowbox]

2 thoughts on “Tagebuch eines reisenden Yogalehrers – TEIL 9

  1. Anonymous says:

    Welch wunderbarer Text, der einen ermutigt den Weg des Herzens zu gehen, in einer herrlichen Leichtigkeit,
    die bei diesen Worten zu spueren ist.

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