Liebe Freundin/ Lieber Freund, ich unterrichte seit sechs Wochen in Italien, in einem kleinen, alten Steindorf, ungefähr in der Mitte von Sabina. Wenn Sie Ihre Nase aus meinem Küchenfenster strecken, riechen Sie Rosmarin, Lavendel und Thymian, alles in einem herrlichen Gemisch, und sehen Sie nicht ganz so verschlafen drein, erblicken Sie Schwalben, die um das Dorf kreisen, als hätten sie etwas zu gewinnen. Es fahren keine Autos im Dorf, und das Yogadeck ist im Garten des Palazzo Forani, ein Palast des 15.Jahrhunderts. Ein Wildwuchs überall, und es fehlen nur die Affen, welche in den Aprikosenbäumen sitzen, und man wäre ganz in einem Dschungel versunken.
Gestern, irgendwo im Dorf, kam eine amerikanische Schülerin auf mich zu, und sagte: ´Es ist mir unmöglich in meinem Innern Stille zu finden. Was soll ich tun?` Ich empfahl ihr Zazen, die Meditationsmethode des Zen Buddhismus. Die Methode hatte mein Leben verändert und ich fühle mich seit einigen Jahren verpflichtet, Zazen, das Sitzen in Stille, weiterzugeben. Doch
unter Licht betrachtet: Kann ich in meinem Inneren still sein, wie die Amerikanerin hoffte? – Wenn ich still auf einem Stuhl sitze, geschehen viele Dinge in meinem Körper: meine Atmung bewegt sich, mein Herz schlägt, mein Blut fließt, meine Knochen halten mein Gewicht, es gibt ein Zwicken hier und da … immer findet Bewegung statt.
Zum Stillstand kommen wir nie, es entspricht nicht unserer Natur. Ich versuchte die Frage der Amerikanerin in eine etwas andere Richtung zu lenken. Ihre Frage lautete nicht: Wie kann ich still sein, sondern: Wie kann ich mich in meinem Inneren aufgehoben fühlen? Diese Frage richtet sich an unsere Selbsterkenntnis, an die chilonische Forderung nach dem Inneren Zweifel, dem ´Erkenne dich selbst!`, und der letzten aller Fragen: ´Wer bin ich?` Ich erzählte der Amerikanerin, dass ich
zweimal im Jahr in ein buddhistisches Kloster gehe, um in Stille zu sitzen.(Ich gehe jedes Jahr zu einem anderen Zen Meister, um nicht von einem bestimmten Lehrer abhängig zu werden, und empfehle jedem, spirituelle Abhängigkeiten zu vermeiden.)
Einmal saß ich sieben Tage mit Zen Meister Žarko Andričević, dem Dharma Nachfolger von Chan Meister Sheng Yen, und
fragte, von morgens Fünf bis abends um Zehn: ´Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich? …` Eine hübsche Woche. Aber im Zen geht es weniger darum, Antworten zu finden, als vielmehr Fragen zu stellen. Auch finde ich, mehr und mehr, dass die Frage, Wer bin ich, gar nicht auf mich selbst gerichtet ist, sondern auf Menschen und Dinge um mich herum.
Ich arbeite zur Zeit an einem Roman und eine Figur in dem Roman sagt an einer Stelle wie folgt: „´Erkenne dich selbst`, Monsieur, ist eine Aufforderung, den anderen anzublicken und sich selbst wiederzuerkennen. Es geht um Wiedererkennen, Monsieur, nicht um das eitle Tam Tam, welches Sie in Ihrem Kloster betreiben. Zum Wiedererkennen gehört, dass man die Brücke zwischen sich und dem anderen zerschlägt, erkennt dass es keinen Unterschied zwischen zwei Nasen, zwei Gesichtern, zwei Menschen gibt, dass die Welt nicht gespalten, sondern in einer Einheit besteht. Dies, freilich, erforderte Ihre Meditation schlichtweg fallenzulassen und nichts mehr zu tun als auf den anderen Menschen zuzugehen. Sie werden feststellen: es ist kein anderer, sondern Sie selbst. Und erst durch diese Erkenntnis entsteht, was Sie nennen: Selbsterkenntnis. Au revoir, Monsieur, noch habe ich mich nicht in
Ihnen wiedererkannt. Doch der Zeitpunkt mag kommen oder nicht: wir sind vereint, Brüder im Herzen und Geiste.“ – Ich trat auf die Amerikanerin zu und umarmte sie. Ich hatte das Gefühl, es sei richtiger, als ihr bloß das Sitzen in Stille zu empfehlen. Tatsächlich bewirkte ich ein Lächeln in ihrem Gesicht, und sie saß in dieser Woche sehr gut und aufmerksam auf ihrem Meditationsstuhl.
In drei Wochen verlasse ich mein italienisches Dorf und ziehe weiter nach Luzern, in die Schweiz, wo ich an einem See, unter massivem Gestein meditiere und morgens und nachmittags Yoga unterrichte. Im Sommer gastiere ich in Kroatien, später im Jahr in Österreich und Deutschland.
Wollen Sie mich besuchen, liebe Freundin/ lieber Freund? Zur Selbsterkenntnis gibt es viel zu diskutieren. Oder nichts. Allemal gelangen wir an die Ufer einer Erkenntnis. – Der Ihre, Ben, Yogalehrer und Schriftsteller.
[yellowbox]Ben ist gerade in fünf Lehrern als Yogalehrer unterwegs und schreibt dabei regelmäßig für Asanayoga. Teil 1 seiner Reise findest du hier, Teil 2 der Reise kannst du hier lesen, hier ist Teil 3. Folgt Ben außerdem auf seinen beiden Websites: als Yogalehrer & als Schriftsteller.[/yellowbox]
Genüßlich ……. das zu lesen. Gedankenperlen des Augenblicks.
Danke !
Mit Herzensgrüßen aus Tirol, Daniela