Liebe Freundin, lieber Freund, ich schreibe Ihnen von 2500m, unterhalb des Großglockner, wo ich mit einem Bergführer über den Begriff der Schönheit diskutierte. Am Ende unseres Gesprächs stellen wir fest: Wer etwas Schönes erfahren möchte, muss
staunen, muss also begriffsstutzig sein, wobei es weder durch Grammatik noch Sprache ausgedrückt werden kann. Das Sinnbild hierfür ist der offen stehende Mund. Man sieht viele dieser offen stehenden Münder, wenn man die Zweitausendermarke in Österreich überschritten hat, blickt man nicht hinab auf die Schlote eines Industriegebietes, sondern auf Bergflüsse, Wasserfälle, gräserbewachsene Berghänge, Kühe, Ziegen, Zirben, Wetterlerchen, welche sich im Winter verbiegen und ganz besondere Gestalt annehmen. Der offen stehende Mund ist nicht nur der einzig mögliche Ausdruck von Schönheit, sondern auch von Intelligenz. Diese ist keine Intelligenz des Verstandes, sondern des Gefühls. Man spricht auch von Körperintelligenz.
Mit jener gewappnet ist es dem Betrachter möglich, nicht nur über einen Berg zu staunen, sondern das Feingefühl für diesen Berg zu erweitern, diesen Berg mit Gefühl, mit dem ganzen Körper wahrzunehmen. Ausdruck hierfür ist nicht nur der offen stehende Mund, sondern, im erweitertem Sinn, der regungslose Körper. Auch dieser findet sich ausschließlich über zweitausend Höhenmeter. Die Steifheit des Körpers hat also durchaus seinen Sinn. Flexibilität, Beweglichkeit ist beim Gewahrwerden von etwas Schönem nicht angebracht. Man wird erschlagen von dem, was man sieht, wird wortlos, in seiner Grammatik ausgesaugt, bleibt als erfasste Hülle vor dem Gebirge stehen und lässt schlicht auf sich wirken, was mit Gewalt in seine Augen fällt. Dieser Prozess gefällt nicht nur Menschen, sondern auch Tieren; also Hirschen, Kühen und Ziegen. Sie alle stehen beizeiten mit offen stehendem Munde auf einem Berg und lassen sich von der Schönheit des Berges erschlagen. Ganz anders die Wuseligen im Tale und in den Städten.
Wer sich im Spiegel seines Smartphones betrachtet, den Mund offen stehen hat, regungslos wird, zählt nicht zu denen, die von der Schönheit ergriffen sind. Sie werden von etwas anderem ergriffen, nämlich von sich selbst. In der Betrachtung des Berges jedoch verschwindet das Selbst, geht ganz auf in dem Berge, und so wird der Betrachter dem Berge gleich, erstarrt, und so wird es auch der Hirsch, die Kuh und die Ziege. Der Mensch gleicht sich an. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Ich und Du, sondern nur ein Hineinversinken in den Prozess des Lebens. Ich höre den Leser rufen: ´Was hat das mit Yoga zu tun?` Ich lasse diese Frage unbeantwortet und hoffe auf die eigene Aufklärung.
Dies zumindest mag verraten sein: Dass Yoga nicht nur Bewegung des Körpers bedeutet, nicht nur ein Stillerwerden der Gedanken, sondern Aufklärung, Ergriffenheit, ein Erschlagensein im Weltgeschehen. Wer bin ich? Diese Frage stellt man dem Berge und wartet auf ein Echo, oder ist selbst das Echo, das den Fragenden unmittelbar mit Tränen ergreift. Ich schicke Ihnen wärmende und fürsorgliche Grüße aus dem Pinzgau! Ich unterrichte in dieser Woche in Zell am See, unter arabischen Scheichs, und hätte noch so viel mehr zu berichten, wäre an dieser Stelle nicht mein Papier zu Ende und würde ich nicht absehen, dass auch dieser Satz mit einem Punkt abgeschlossen werden muss. Nur noch dies: Klär dich auf, Leser! Ergriffenheit ist Liebe und Liebe droht uns allen wie die Gletscher zu schwinden! – Es grüßt, der Ihre, Ben, Yogalehrer und Schriftsteller (der für sein neues Buch keine Maschine, sondern eine(n) liebevolle(n) Verleger/in sucht).
[yellowbox]Ben ist gerade in fünf Ländern als Yogalehrer unterwegs und schreibt dabei regelmäßig für Asanayoga. Teil 1 seiner Reise findest du hier, Teil 2 der Reise kannst du hier lesen, hier sind Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6. Folgt Ben außerdem auf seinen beiden Websites: als Yogalehrer & als Schriftsteller.[/yellowbox]