Liebe Freundin, lieber Freund, ich habe das Meer verlassen, die Berge überquert und mache Halt, nicht auf einer Landzunge, sondern in der Mitte einer stinkenden Stadt. Diese erscheint mir ebenfalls zungenhaft, jedoch mehr wie ein Maul, das Menschen und ihren stillen Geist rauben will, noch ehe sie … Um nicht in Rätseln zu sprechen: ich bin in Stuttgart, dem Kessel des Südens, wo eine Lunge nach Luft und ein Magen nach einer frischen Rübe schreit. Doch woher die Luft nehmen? Woher die Rübe? Gestern vertrat ich eine Kollegin im Yogaunterricht; das Studio lag an einer Kreuzung, die Luft kam aus einer Klimaanlage, die Schmerzen in meinen Lungenflügeln waren nachhaltig. Am nächsten Tag verlangte ich, im Bio-Markt, nach frischen Rüben. Aber woher nehmen? Selbst über den abgelegensten Feldern wiehern die Flugzeuge. Also denn: Ist der reisende Yogalehrer, wo er an so hübsche Orte gelangt, zu sensibel geworden?
Ich halte mich an einer Brüstung am Neckar fest. ´O, mein Neckar! Ort von Hölderlin, Schiller, Mörike! Was tut man dir an!` Der Yogalehrer muss sich setzen. Schwer keucht seine Brust, es geht ihm ein Schwindel durch den Geist. Wie sagt Hölderlin, mein Bruder, über diesen Fluss:
Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
Wie Leben aus dem Freudebecher,
Glänzte die bläuliche Silberwelle.
´O Bruder, O Leid! Heute müsst´ es heißen`:
Auf ihren Gipfeln brachte des Himmels Luft
Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
Wie Tode aus den Auspuffrohren,
Strömte die schwärzeste Abgashölle.
Tod und Teufel und Verderben! Inmitten jedoch Hoffnung: ein Yogastudio! Und an dieser Stelle muss ich all die Orte verteidigen, die sonst verspottet werden: Die Fitnessstudios, Wellnesscenter und Großstadt-Gymnastikräume dieser Welt. Was wäre der Stadtmensch ohne einen Raum, in dem er, wenn auch in stickiger Luft, unter achtzig Menschen, ein wenig Bewegungsfreude erleben darf? Landflucht wäre eine Möglichkeit; in die Dörfer, zu den umliegenden kleinen Yogastudios, die schneller wachsen als ein Räucherstäbchen verbrennen kann. Doch auf dem Land zu leben ist wenigen vergönnt; viele können nicht, die meisten wollen nicht. Der ganze Mensch ist in Gefangenschaft der Idee einer Stadt. Was tun? Wieder greift mich der Schwindel. Ich halte mich und träume von der Landschaft von Sabina, in Italien. Endlich die Rückkehr meines Geistes: ´Neckar!` rufe ich, und spüre den ganzen Sturm und Drang. Sollte es nicht möglich sein, auch an diesem Orte, gerade an diesem, die Stille in den Menschengeist zurückzubringen? Sofort beginne ich zu organisieren: Einen Tag der Stille, inmitten von Stuttgart; eine meditative Waldwanderung, nahe Stuttgart; ein Yogaseminar für Kinder, am äußersten Ende von Stuttgart. Und falle am Abend in mein Bett. Ob mich der Geist der Stadt ergriffen hat? Für wenige Wochen bleibe ich hier, inmitten des Achten Höllenkreises, über welchen Dante schrieb, es lebten darin die falschen Ratgeber. Und setze diesen, und den Auspuffrohren, einen Traum und mit Hölderlins Stimme entgegen:
(…) doch weicht mir aus treuem Sinn
Auch da mein Neckar nicht mit seinen
Lieblichen Wiesen und Uferweiden.
Alles, ja alles, bedarf der Ruhe und Vorstellungskraft. – Es grüßt Sie, Ben, reisender
Yogalehrer und Schriftsteller.