Kolumne: Der Yogi, der aufs Wasser ging

Neue Kolumne auf Asanayoga: Marcel lebt auf einem Segelschiff, hier schreibt er über sich, sein Leben und vor allem über Yoga.

Von meinen Leben als segelnder Yogi möchte ich an dieser Stelle in loser Folge berichten und hoffe, dass ich dazu anregen kann, ein Grenzgänger zu werden ­– im Alltag und auf der Matte.

Um mich herum glitzert der Atlantische Ozean im Licht der aufgehenden Sonne. Auf dem Vorschiff rolle ich meinen Yoga-Teppich aus und setze mich hin. Ich richte mich auf, schließe die Augen und lasse den Atem gleichmäßig fließen. Das Rauschen der Atmung wird eins mit dem Atem des Meeres. Über der seichten Dünung hat sich ein sanfter Nebelschleier gebildet, der sich langsam auflöst. Ich versuche den Strom meiner Gedanken auszublenden, doch es gelingt mir nicht. Zu viel geht in meinem Kopf vor. Noch kann ich es kaum fassen, dass ich den Aufbruch geschafft habe: Ich lebe auf einer Segelyacht. Job, Wohnung und Auto sind gekündigt, ebenso laufende Abos, einige Versicherungen und Mitgliedschaften, auch die meines Yoga-Studios in Köln (Selim, Heike und Jürgen, ich vermisse euren Unterricht und die Gruppe). Vor meiner Abreise habe ich noch Musikinstrumente (schweren Herzens), die CD-Sammlung, viele Bücher und andere, wie ich jetzt feststelle, überflüssige Sachen verkauft, die sich über die Jahre angehäuft hatten aus der Kategorie Dinge, die ich schon immer haben wollte aber noch nie gebracht habe. Auf einem Segelschiff zu leben erfordert Reduktion und Verzicht: Weniger Bücher, weniger Kleidung und Schuhe, kein Auto, kein Fahrrad, keine Waschmaschine, keine Spülmaschine, kein permanentes Internet, leider aber auch kein Yoga-Studio in der Nähe.
Das Leben auf See ist wie der Yoga eine bequeme Art der Askese. Ich verzichte auf einem Schiff auf so viele Dinge, ohne dass ich es merke. Ich mache es mir jedoch nicht zu unbequem und strenge mich dennoch ständig (mal mehr oder weniger) an. Das ist Hatha Yoga. Das Wort Hatha bedeutet Zwang. Um Gewohnheiten und Bequemlichkeiten zu durchbrechen, muss ich mich anstrengen. Ich zwinge mich dazu, früh aufzustehen und zu üben. Ich zwinge mich auf See alle drei Stunden aus der Koje zu klettern, und die Wache zu übernehmen. Wie Yoga, verändert auch das Leben auf See meine Art zu denken, zu handeln und zu leben.

Die Seefahrt ist für mich ein Transformationsprozess, wie der Weg des Yoga.

Kolumne_Marcel_Yoga auf dem Schiff
Früh morgens an Deck an der portugiesischen Atlantikküste. Heinrich der Seefahrer entsandte von hier seine Expeditionen.

Heutzutage ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, aus unserer sogenannten Gesellschaft auszusteigen, sich in Gänze davon abzukoppeln. Und Kloster oder Selbstmord kamen für mich als Alternativen nicht in Frage. Daher entschied ich mich für ein Leben auf See. Eine Lebensform irgendwo am Rande. Ein Seenomadentum, ein Pendeln zwischen den großen Städten – Las Palmas, Salvador da Bahia, Rio de Janeiro, Buenos Aires – und einsamen, abgelegenen Orten, unbewohnten Inseln und unzugänglichen Flüssen.

Yoga hilft mir dabei im Alltag mehr Achtsamkeit zu entwickeln, für mich, den eigenen Körper und die Umwelt. Vermutlich hat der Weg des Yoga mit dazu beigetragen, dass ich mich dazu entschieden habe, aus dem gesellschaftlichen Alltag auszubrechen, ein Grenzgänger zu werden.
Pantañjali schreibt im Yogasutra:

„Unsere Yogapraxis soll drei Qualitäten vereinigen: Klärung, Selbstreflexion und Akzeptanz unserer Grenzen.“

Passt das zusammen: Die eigenen Grenzen akzeptieren und sie doch austesten? Ja. Denn auf See, wie auf der Matte, verschieben sich Grenzen immer wieder und bleiben nie starr und unverändert. Wie alles in unserem Leben unterliegen sie einem dynamischen Prozess, den man vielleicht Erfahrung nennen kann. „Ich habe Angst davor, meine Grenzen genau zu kennen“, hat der Surrealist Marcel Duchamp einmal gesagt. Der Yoga hilft, Ängste und Unsicherheiten zu überwinden.

Auf der Yogamatte zählt, nachdem man die Grundlagen von einem guru, einem Lehrer, gelernt hat, lediglich Praxis, Praxis, Praxis. Und Vertrauen ins eigene Tun. Von Nichts kommt nichts, hätte mein Großvater gesagt, der auf seine Art auch ein großartiger guru war. „Es ist Vertrauen, das uns die notwendige Kraft gibt, Widerstände erfolgreich zu überwinden und weiterzugehen, ohne die Richtung aus den Augen zu verlieren. Je stärker unser Vertrauen ist und je intensiver unsere Bemühungen sind, desto näher rückt das Ziel.“ (Pantañjali, Yoga-Sutra I, 20/21)

Es ist Vertrauen, das mir die Kraft gibt, aufzubrechen, die weiten Ozeane in einem kleinen Segelboot zu bereisen und weiterzufahren, ohne den Kurs aus den Augen zu verlieren. Denn das größte aller Hindernisse sind die eigenen (Selbst-)Zweifel. Habe ich das richtige getan? Schaffe ich das? – Nur durch Selbstvertrauen und Ausdauer kann ich diese Selbstzweifel überwinden.

Kolumne_Marcel_Kopfstand
In der Marina Quinta do Lorde auf Madeira. Im Hintergrund die unbewohnten Ihlas Desertas.

Nach wie vor versuche ich daher täglich zu üben, was auf einem Segelschiff nicht immer einfach ist, auf See zuweilen gar unmöglich. Die Enge der Kabine oder die Aufbauten des Decks beschränken die Bewegungsfreiheit und erfordern eine Anpassung der Asanas oder Reduzierung der Vinyasas, gerade, wenn man dynamisch übt. Doch in Häfen oder Ankerbuchten findet sich an Land fast immer ein geeigneter Platz, die Matte auszurollen. Eine Mole, die Terrasse eines Hotels oder auch ein Yoga-Studio in der Nähe. So kam ich dazu in Rio de Janeiro meine Ashtanga-Praxis aufzufrischen und auf den Kanaren eine Ausbildung zum Yoga-Lehrer zu absolvieren und erste Erfahrungen im Unterrichten zu sammeln.

[yellowbox]Wer noch mehr von Marcel, von seinen Reisen und von seinem Leben als segelnder Yogi lesen will, der kann sich auf die nächste Folge freuen und bis dahin auf seinem eigenen Blog Chulugi stöbern.[/yellowbox]

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