Die Yamas werden in den Yoga-Sutren des Patanjali benannt und sind Vorschriften für das Verhalten im persönlichen Umfeld. In diesem Artikel möchte ich das vierte Yama „Brahmacarya“ beleuchten. Zu diesem Yama findet man in der Literatur unterschiedliche Deutungen.
Der Wortstamm „Brahma“ bedeutet wörtlich: der Weg zu Brahma, was meint: absolute Wirklichkeit oder Gott.
Im Patanjali Sutra 2.38 heißt es wörtlich zu „Brahmacarya“
“Handlung im Bewusstsein des Absoluten, bringt Lebenskraft.”
Patanjali Sutra 2.38
“Wenn die sexuelle Kraft kontrolliert ist, wird kraftvolle Vitalität erlangt.” Patanjali Sutra 2.38
Quelle: vedanta-yoga.de
Gérard Blitz beschreibt in seinem Buch „Der „Yogaweg des Patanjali“ das Yama Brahmacarya mit:
„Mäßigung, Vernunft, sich nicht von den Extremen mitreißen lassen, beständig in der Mitte ruhend, im Gleichgewicht zwischen den entgegengesetzten Dingen“.
Gérard Blitz
Eine weitere Auslegung habe ich in dem Buch: „Patanjalis Yogasutra“, von Ralph Skuban gefunden. Er definiert Brahmacarya mit:
„Leben im Bewusstsein um die Quelle, aus der wir kommen“.
Ralph Skuban
Wenn das Yama als Verhaltensregel gelebt wird, ergibt sich als „Frucht“ daraus:
„Wer fest verankert ist im Bewusstsein um die Quelle, aus der wir kommen, der erfährt Vitalität“
Inhaltsverzeichnis
Quelle des Absoluten
Dieses Yama beschreibt ein tiefes Bedürfnis des Menschen: die Einheit mit dem Göttlichen zu erfahren und sich nicht mehr getrennt zu fühlen.
Wenn ich für mich erkannt habe, dass ich aus der Quelle des Absoluten stamme und daraus mit allem verbunden bin, dann entfalten sich aus diesem Bewusstsein die vorangegangen Yamas automatisch mit. Ich entwickle immer mehr ein Bewusstsein der Friedfertigkeit, der Wahrhaftigkeit und werde frei von Gier und Verlangen.
Yoga weist mir den Weg, mich immer wieder mit dieser Quelle zu verbinden.
Natürlich ist das zunächst graue Theorie! Wenn ich in mein Leben schaue, dann bin ich im Alltag mit meiner Aufmerksamkeit überwiegend im Außen. Meine Gedanken, Gefühle und Handlungen sind größtenteils mit den alltäglichen Pflichten und Herausforderungen beschäftigt. Oft verliere ich mich zum Beispiel in „To Do“ – Listen, vollem Terminkalender, existenziellen und finanziellen Verpflichtungen, alltäglichen Sorgen sowie dem Kummer und Nöten anderer Menschen aus meinem Umfeld.
Zunächst neige ich dazu, die Lösungen für all die vielen täglichen Probleme im Außen zu suchen, oder ich frage andere um ihren Rat.
Fakt ist: Ich falle oft genug aus meiner Mitte!
Mein Anliegen ist jedoch immer wieder, die Yamas in mein tägliches Leben zu integrieren. Mein Yogaweg beginnt mit den Yamas und Niyamas!
Nach 20 Jahren Yogalehrtätigkeit und der intensiven Auseinandersetzung mit der Yoga-Philosophie, gelingt es mir mittlerweile immer schneller, mich zu zentrieren und in meine Mitte zurückzufinden.
Das Yama „Brahmacarya“ ist für mich vor vielen Jahren in einer heftigen Lebenskrise der Anker geworden, der mich ins Leben zurückgeholt hat!
Die Erkenntnis, dass ich aus der göttlichen Quelle ins Leben geboren bin, dass sie mich umgibt, mich trägt und leitet, hilft mir in der Hektik des Alltags, meine Ruhe und Gelassenheit wiederzufinden.
Der Schlüssel liegt im Atem!
Es ist bestimmt kein Zufall, dass das indische Wort „Atman“ dem deutschen Wort „Atem“ so ähnlich ist.
In Wikipedia liest man, dass das Wort „Atman“ als das individuelle Selbst, die unzerstörbare, ewige Essenz des Geistes oder auch als Seele übersetzt wird.
Weiter lernen wir aus der indischen Philosophie, dass der Atem Träger der Lebenskraft, „Prana“ ist. Da schließt sich der Kreis!
Für mich liegt im Atem die Verbindung zum Absoluten oder auch zum Göttlichen. Der Atem ist nicht in mir, sondern ich bin im Atem geborgen wie in einer kosmischen Gebärmutter. Über diesen Atem bin ich ständig verbunden mit dieser Quelle, die jenseits des Erschaffenen oder der materiellen Form ist.
Aus meiner eigenen Praxis weiß ich: Wenn ich mich über einen kurzen Zeitraum auf den Atem konzentriere, komme ich im Augenblick an. Und in diesem Augenblick finde ich in mein Zentrum. Ich komme zur Ruhe und fühle mich wieder verbunden mit der Quelle des Lebens. Gleichzeitig tanke ich auf! Ich spüre, wie meine Energie zurückkehrt! Hier bestätigt sich die obige Aussage: „Wer fest verankert ist im Bewusstsein um die Quelle, aus der wir kommen, der erfährt Vitalität“.
Diese vitale Kraft des Prana, die jede Zelle des Körpers durchflutet, sollte vernünftig genutzt werden. Zu viel dieser Energie bewirkt „Hitze“, die abgebaut werden muss, damit sie sich nicht anstaut und uns „verbrennt“. Verschleudere ich auf der anderen Seite diese wertvolle Energie, in dem ich einem ungesunden Lebenswandel fröne und maßlos bin, werde ich auf Dauer krank.
Sexuelle Energien und Mäßigkeit
Wir lernen im Yoga diese Lebenskraft zu kontrollieren und sie für unsere spirituelle Entwicklung zu nutzen. Dies gilt auch für die sexuelle Kraft.
In vielen Texten wird die Bedeutung von Brahmacarya auf den Umgang mit der sexuellen Energie bezogen und als „sexuelle Enthaltsamkeit“ übersetzt. Das greift meiner Meinung nach nicht weit genug!
Die eigentliche Aufgabe ist, sich im Alltag immer wieder bewusst zu machen, dass diese absolute göttliche Kraft in mir und durch mich wirkt. Sie ist überall um uns vorhanden. Alles Erschaffene existiert aus der Energie des Absoluten. Es gilt daher achtsam und verantwortungsvoll mit dieser Energie umzugehen. Nicht nur mit meiner eigenen, sondern auch mit der Energie des Planeten. Aus diesem Bewusstsein ergibt sich Mäßigkeit von selbst.
Übung für den Alltag
Atemkonzentration zur Verbindung mit der Quelle für den Alltag
Hier möchte ich eine kurze Übung für den Alltag vorstellen, die Dich sehr schnell wieder zentrieren und aufladen kann!
Im Tagesverlauf nimm dir immer mal wieder eine Minute Zeit. Spüre den Atemstrom an deiner Nase, wie er kommt und geht. Beobachte wie du den Atem von außen aufnimmst, er in dich einfließt, sich den Weg durch den Körper sucht und im Ausatmen den Körper wieder verlässt. Mach dir bewusst, dass der Atem die Lebensenergie Prana transportiert. Spüre den Weg des Atems durch deinen Körper. Halte nach dem Einatmen kurz die Luft an und nimm wahr, wie alle Atemräume nun gefüllt sind, mit dieser kostbaren Energie.
Dann atme ganz natürlich wieder aus. Vielleicht gelingt es dir, diese Energie sogar in deinen Füßen wahrzunehmen? Mach Dir bewusst, dass auch die Haut atmet!
Probiere mal aus, wie es sich anfühlt, wenn du über die Füße atmest und was sich verändert in deinem Körpergefühl!
Wenn du das täglich mehrmals übst, kannst du diese subtile Prana-Energie immer besser wahrnehmen. Es bringt dich in den Augenblick zurück und du nimmst die Verbindung zur universellen Quelle immer bewusster wahr! Vielleicht magst du das ausprobieren?
[yellowbox]Wenn Du mehr über das Wunder des Atems erfahren möchtest, empfehle ich Dir das Seminar: „Yoga und Atmung“ vom 29.05. – 31.05.2015 im Bergkloster Bestwig, 59909 Bestwig.[/yellowbox]
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