Stephan Grünewald ist Diplom Psychologe, Mitbegründer des renommierten rheingold-Instituts und Bestsellerautor. Hier führt Stephan Grünewald mit seinen Kollegen jedes Jahr mehr als 5000 Tiefeninterviews zu aktuellen Fragen aus Markt, Medien und Gesellschaft durch. Beim ReLevel Opening in Köln sprach Stephan Grünewald mit uns über die erschöpfte Gesellschaft und gibt dir Tipps wie du dein Leben entschleunigen können.
Inhaltsverzeichnis
Was verstehen Sie unter dem Begriff der erschöpften Gesellschaft?
Stephan Grünewald: Wir treiben uns manchmal insgeheim selber in die Erschöpfung. Also wir leben im Moment in einer Welt, wo es uns allen wunderbar geht. Deutschland ist Weltmeister, wir sind in einem Wohlstandsparadies, wir haben wenig Arbeitslose, aber wir merken, wir sind umbrandet von Krisen. Überall wo wir hingucken, Ebola, ISIS, Ukraine, Israel, Griechenland. Das ist uns nicht geheuer.
Aus einer tiefen Verunsicherung sind wir bereit diese ganze böse Welt auszublenden, indem wir uns immer stärker ins Hamsterrad stürzen, indem wir immer stärker in einen Zustand besinnungsloser Betriebsamkeit geraten, weil wir dann nicht mehr betriebsam, sondern besinnungslos sind. Das heißt, wir können diese ganzen Sachen, die uns unbehaglich sind und Angst machen, einfach ausblenden.
Der hohe Preis, den wir zahlen: Durch diese Dauerbetriebsamkeit geraten wir immer stärker in Zustände, wo wir uns nicht mehr spüren, wo wir merken, wir werden krank, wir haben ständig Kopfschmerzen und andere körperliche Symptome. Seelisch ist der Preis, dass wir den inneren Kompass verlieren.
Also je betriebsamer wir sind, desto weniger spüren wir, wo es uns eigentlich hinsteuert. Das Hamsterrad sorgt ja dafür, dass es immer in die gleiche Richtung dreht, da ist nichts Nichtvorhergesehenes.
Wenn wir aus dem Hamsterrad aussteigen, wenn wir innehalten, dann spüren wir einerseits, dass die Ängste auf uns einstürzen, haben aber andererseits die Chance, dass in diesem Innehalten wieder deutlich wird, was wir eigentlich vom Leben wollen und welchen Sinn wir eigentlich folgen können. Und das ist eigentlich so die große Mutprobe der heutigen Zeit: Freiheit, Offenheit, Unverplantheit auszuhalten und den Sprung ins Nichts zu wagen.
Welche Symptome sehen Sie in einer erschöpften Gesellschaft?
Stephan Grünewald: Ich bin im Dauerstress. Ich bin in der Freizeit auch total durchgetaktet und überprogammiert. Ich renne von einer Aktivität zur nächsten. Immer dem Effizienzdiktat folgen, immer performen müssen – das führt langfristig zu solchen Kollateralschäden.
Das fängt mit Kopfschmerzen an und geht bis zu Magenbeschwerden. Sehr problematisch sind Schlafstörungen, weil hier nicht mehr der typische Regenerationsprozess über unsere Träume in Gang kommt. Und am Ende drohen dann Zustände von Depressionen bis zum Burnout.
Ich bin jetzt 24 und ich sehe mich so ein bisschen in der Generation Y. Mir ist die Sinnsuche und Selbstverwirklichung extrem wichtig. Gehöre ich zu dieser erschöpften Gesellschaft, oder kann man das schon in bestimmte Altergruppen aufsplittern?
Stephan Grünewald: Also wir sprechen ja von einer Generation Biedermeier, die die Welt als brüchig und zerrissen erlebt und nicht mehr wie die 68er. Die Generation Y sucht in dieser Brüchigkeit wieder Verlässlichkeit, Sinn und Stabilität. Sie kriegt natürlich das Leben der Eltern mit – dieses Überdrehen im Hamsterrad. Das wollen wir nicht. Wir wollen Engagement, wir wollen eine gesunde Work-Life Balance. Wir können sicherlich sagen, dass dies eine Gegenbewegung zur erschöpften Gesellschaft darstellt.
Sind wir limitiert in unserer menschlichen Betriebsamkeit? Und wenn ja, können wir diese Limitierung wieder steigern, beispielsweise durch Technologie?
Stephan Grünewald: Also ja und nein. Wir versuchen das Limit immer weiter auszureizen durch Technologie, die uns noch schneller und noch effizienter macht. Wir heben das Limit immer mehr durch Zusatzstoffe auf, wie Medikamente und Ritalin, die uns rund um die Uhr aktiv machen.
Aber auf der anderen Seite haben wir einen Punkt überschritten. Das, was wir eigentlich brauchen ist die Regenerationsfähigkeit. Über unsere Träume, über das Innehalten, über unsere Gefühlskultur können wir uns regenerieren. Das machen wir viel zu wenig. Das heißt, wenn wir das andere weiter steigern, wird der Kollateralschaden zunehmen.
Glauben Sie, dass wir das Regenerieren verlernt haben?
Stephan Grünewald: Wenn ich zur Ruhe komm, dann meldet sich erstmal die Unruhe. Diese Unruhe sind die verdrängten Gespenster unserer ungelösten Probleme, unsere Ängste, unsere Zukunftsunsicherheit. Sie stürzen auf einmal auf uns ein.
Diesen Geisterkampf jetzt auszutragen erfordert wirklich Mut und häufig greifen wir dann zum Smartphone oder gehen zum Computer oder stürzen uns in die nächste Arbeit, weil das ist das probateste Mittel, diese Geister erstmal zu eliminieren.
Wir führen einen Kreuzzug gegen die Langeweile, weil die Langeweile uns nicht mehr paradiesisch vorkommt, sondern man das Gefühl hat, da müssen wir erstmal durch die Hölle, bevor wir in der Langeweile sind.
Haben Sie fünf Tipps für uns wie wir gegen diese Gespenster vorgehen können? Wie können wir unser Leben entschleunigen?
Stephan Grünewald: Es geht nicht darum, gegen diese Gespenster anzukämpfen, sondern diese Gespenster zuzulassen. Mit diesen Gespenstern produktiv zu ringen. Dafür gebe ich euch fünf Tipps.
1Aufwach-Ritual
Wenn Sie aufwachen haben Sie sich sieben oder acht Stunden mit Ihren Träumen, mit Ihrer ungewissen Seite, mit Ihren Sehnsüchten, mit Ihrem Potential beschäftigt und wenn der Wecker klingelt, bleiben Sie eine viertel Stunde liegen und spüren dem nach. Lassen Sie sich nicht vom Smartphone wecken.
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2Lange Duschen
Gönnen Sie sich eine lange Dusche. Das Duschen macht Sie nicht nur sauber, sondern bringt Sie in einen verflüssigten, durchlässigen Zustand, wo Sie im Grunde genommen Ihren Tag ganz anders strukturieren können, wo Sie erfindungsreich werden.
3Flexibilität
Sorgen Sie dafür, dass Sie nicht komplett durchgetaktet sind. Lassen Sie immer wieder Freiräume und Dehnungsfugen zu, in denen Sie zu sich kommen.
4Sei NICHT immer effizient
Wenn Sie im Bus, in der Bahn oder U-Bahn sitzen, versuchen Sie in der Zeit nicht effizient zu sein, sondern im Grunde genommen den Blick schweifen zu lassen, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Hier kriegen Sie einen neuen Blick auf sich und das Leben.
5Ein freier Tag für dich
Machen Sie den Sonntag oder den Samstag, also einen Tag in der Woche wirklich komplett frei, ohne Leistungsanforderung, ohne Pflichtprogramm und halten Sie letztendlich diese Freiheit wieder aus. Sie werden erstmal merken, es ist die Hölle, aber auf lange Sicht ist es richtig.